Die Beschäftigung mit mittelalterlicher Hospitalsgeschichte steht vermutlich -be wusst oder unbewusst -im Kontext der Diskussionen um die gegenwärtigen sozialen Sicherungssysteme und den damit einhergehenden tief greifenden Veränderungen...
moreDie Beschäftigung mit mittelalterlicher Hospitalsgeschichte steht vermutlich -be wusst oder unbewusst -im Kontext der Diskussionen um die gegenwärtigen sozialen Sicherungssysteme und den damit einhergehenden tief greifenden Veränderungen und Verunsicherungen. Auch das im vorliegenden Band formulierte Interesse für Aspekte von Kontinuität und strukturellem Wandel ist von zeitgebundenen Impulsen und Per spektiven kaum frei. Es erscheint banal, ist aber dennoch immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass Fragestellungen historischer Wissenschaft zeitgebunden sind und dies stets der Reflexion bedarf. Nicht zum ersten Mal hat Hospitalsgeschichte im Übrigen, angeregt von Bedürfnissen der Gegenwart, Konjunktur. Der katholische Historiker Franz J. Mone, einer der ersten, der sich mit der mittelalterlichen Annen-und Kran kenpflege im deutschsprachigen Raum intensiv wissenschaftlich beschäftigte, konsta tierte im Jahre 1861: ,,Die Literatur über Armen-und Krankenpflege vermehrt sich in neuester Zeit ansehnlich, was von der zunehmenden Nothwenigkeit derselben her rührt." (Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 12, 1861, S. 5.) Die Beiträge des vorliegenden Bandes fußen auf Forschungstraditionen, die sich insbesondere seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten. Seitdem entstanden in verschiedenen historischen Teildisziplinen Arbeiten, die sich von unterschiedlichen Blickwinkeln her mit den mittelalterlichen Hospitälern bzw. allgemeiner mit den Leis tungen christlicher Caritas auseinandersetzten. Im deutschsprachigen Raum waren kir chengeschichtliche Arbeiten dabei nicht selten von konfessionellen Paradigmen ge prägt. In romanischen Ländern wie Italien, Frankreich und Spanien war und ist die Be schäftigung mit der Hospitalsgeschichte stärker in Fragestellungen der allgemeinen Ordens-und Kirchengeschichte integriert. Zu einem wichtigen eigenständigen For schungszweig entwickelten sich Studien im Bereich der Medizingeschichte, die vor al lem an den Vorformen moderner Krankenhäuser, aber auch an der Hospitalsarchitektur interessiert waren. In Frankreich, Italien sowie besonders in Deutschland wurden Hos pitäler zudem aus rechts-und verfassungsgeschichtlicher Perspektive untersucht. Seit den sechziger und siebziger Jahren wuchs das Interesse an sozial-und wirtschaftsge schichtlichen Fragestellungen, welche -zunächst in Frankreich -eng verknüpft waren mit Forschungsunternehmungen, die sich mit dem Begriff und dem Phänomen der Armut in der mittelalterlichen Gesellschaft auseinandersetzten. Etliche neuere Arbei ten betonen den Stiftungscharakter von Hospitälern und analysieren die dort betriebene Stiftermemoria. Freilich sind sowohl Studien zu einzelnen Hospitälern als auch die wenigen bisher vorliegenden Überblicksdarstellungen, von wenigen neueren Untersu-VIII Michael Matheus chungen abgesehen, immer noch den Perspektiven einzelner Teildisziplinen verhaftet. Eine Verknüpfung etwa von sozial-und medizingeschichtlichen Fragestellungen ist bishei: selten systematisch versucht worden. Was den Begriff des Hospitals bzw. des Spitals betrifft, so wurde während der Al zeyer Tagung immer wieder deutlich, wie wenig er geeignet ist, die Vielfalt dessen ab zudecken, was im Mittelalter dem Bereich sozialer Fürsorge zuzurechnen ist. Schon in den Quellen begegnet eine enorme Vielzahl von Termini, mit denen entsprechende Einrichtungen bezeichnet werden. Deren Spektrum vermag der Begriff aber auch dann nur unzureichend zu beschreiben, wenn unter Hospital nicht nur wie in der Modeme Einridhtungen verstanden werden, die ausschließlich oder doch vornehmlich der Ver sorgung von Kranken dienen. Dies hängt auch damit zusammen, dass der Terminus Hospital eng verknüpft ist mit einer räumlich-baulichen Verortung sozialer Fürsorge. Wird aber nicht nur das temporäre Verweilen von Bedürftigen innerhalb eines Gebäu des al l lein berücksichtigt, geraten Spielarten institutionalisierter sozialer Fürsorge in den Blick, die im vorliegenden Band nur am Rande eine Rolle spielen. Zu diesen seit dem 13. Jahrhundert zunächst vor allem in städtischem Umfeld, dann aber auch auf dem Land entstehenden und sich europaweit verbreiteten Einrichtungen zählen bei spielsweise frühe Formen von "Essen auf Rädern", wie sie im Rahmen von Armen brettetn und Armentafeln praktiziert wurden. Zu bedenken ist ferner, dass in vormodernen Gesellschaften Bedürftige nur teil weise mit der mehr oder weniger effizienten Unterstützung von Institutionen rechnen konnten. Über deren Angebote hinaus wird man jene nicht außer Acht lassen dürfen, die für viele Menschen von existenzieller Bedeutung waren: Formen der Fürsorge in nerhalb von verwandtschaftlichen Kreisen, solche, die auf den sozialen Netzwerken von Nachbarschaft und Kirchspiel basierten, und schließlich Hilfeleistungen innerhalb von Gemeinschaften wie von Zünften und Bruderschaften. Während Institutionen Quellen produzieren, die im günstigen Fall der historischen Analyse zur Verfügung stehen, können nicht institutionalisierte Formen sozialer Fürsorge und deren Leistun gen sc,hon quellenbedingt sehr selten angemessen gewürdigt werden. Hospitalsge schichte ist folglich überwiegend eine Geschichte aus institutionellem Blickwinkel, weniger eine aus der Perspektive der vielen Bedürftigen. Aber auch mit Blick auf Spi täler ist die Proportionalität der Überlieferung sehr disparat. Zu Fragen der Normie rung und Verfassung mittelalterlicher Hospitäler etwa fließen Quellen weitaus üppiger als zu den krankenpflegerisch-medizinischen Leistungen. WiH man trotz dieser angedeuteten Probleme das breite Spektrum institutionali sierter mittelalterlicher Fürsorge erschließen (im Rahmen eines Tagungsbandes not wendigerweise selektiv), so erscheinen aus mehreren Gründen Fragen nach den Funk tionen von Einrichtungen sowie nach deren strukturellem Wandel besonders fruchtbar. Nicht "das Hospital" steht dabei im Mittelpunkt des Blickfeldes, sondern seine vielfäl tigen Relationen und Verflechtungen. Diese leitenden Aspekte werden in allen Beiträ gen dieses Bandes aufgegriffen, wobei die Fragen nach Funktionen und deren Wandel jene nach Kontinuitäten impliziert. Die gewählte Perspektive kann grundsätzlich As pekte aller an der Hospitalsgeschichte interessierten Disziplinen berücksichtigen und ferner die aus rechts-und verfassungsgeschichtlicher Sicht bisweilen suggerierte Statik von Hospitalsstiftungen hinterfragen. Vielen ist dafür zu danken, dass die Tagung und der vorliegende Band realisiert werden konnten. Auch dieses achte Alzeyer Kolloquium profitierte von der engen Zu sammenarbeit zwischen dem Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universi tät Mainz, dem Alzeyer Altertumsverein, der Stadt Alzey und ihrem Museum. Zu dan ken haben die Tagungsteilnehmer, die aus Deutschland, England, Frankreich, Italien, Luxemburg und Österreich nach Alzey kamen, nicht zuletzt dem großzügigen Sponsor, der Alzeyer Volksbank, die auch die Drucklegung des Bandes unterstützte. Bewohner von Stadt und Region fühlten sich als Teilnehmer der Veranstaltung wohl auch des halb unmittelbar angesprochen, weil das Thema auch lokale Bezüge vermittelte. So brachte Susanne Schlösser den Tagungsteilnehmern die Geschichte der beiden im Mit telalter entstandenen Alzeyer Hospitäler näher, über die Quellen freilich erst in der frühen Neuzeit reicher fließen. Alle Teilnehmer der Tagung erinnern sich gerne der Unterstützung durch Eva-Heller Kameth und Rainer Kameth, die Schätze des histori schen Museums der Stadt Alzey präsentierten, das in einem ehemaligen Spitalsgebäu de untergebracht ist. Erfreulicherweise können die Tagungsakten des 8. Alzeyer Kolloquiums trotz aller Widrigkeiten -wenngleich verspätet -vorgelegt werden. Dies ist auch der geduldigen redaktionellen Arbeit von Hilmar Tilgner zu verdanken, zudem der Unterstützung von Elmar Rettinger sowie der Bereitschaft von Franz Feiten, den Band in die Reihe Ge schichtliche Landeskunde aufzunehmen. Mainz, Rom, im August 2005 Michael Matheus Frank Rexroth Armenhäuser -eine neue Institution der sozialen Fürsorge im späten Mittelalter Um das Jahr 1536 verfasste der Dichter und Drucker Robert Copland ein Gedicht, das einen bemerkenswerten Dialog wiedergab. 1 Dieser hatte angeblich jüngst in der engli schen Metropole selbst stattgefunden, und zwar während eines Regenschauers, der im Verein mit einem eiskalten Nordwind zwei einander nicht bekannte Männer in einem Unterstand zusammenführte. Der eine war Copland selbst, ein wohlsituierter Londo ner, der schon kraft seiner sozialen Stellung in der Stadt citoyen genug war, sich für die Verhältnisse in der Kommune zu interessieren. Ausgerechnet im Torbogen eines nicht explizit benannten Londoner Spitals hatte er vor dem Regen Zuflucht gesucht, und so traf er dort auf einen anderen Mann: dies war der Türhüter jener Institution. 2 Die beiden begannen, sich über das Spital und seine Insassen, über die Erschei nungsfom1en von Armut und Bettel in der Stadt und über die Lebensläufe der Men schen zu unterhalten, die beständig entweder um finanzielle Zuwendungen oder um Aufnahme in das Spital baten. Sie räumten dabei sehr wohl ein, das es in London Ar me gebe, die der Unterstützung würdig seien -kranke alte Menschen etwa, die sich nicht mehr selbst ernähren könnten und denen keine Angehörigen ihren Lebensabend erleichterten. Allerdings verwendeten Copland und der Türhüter mehr Zeit darauf, eine ganz anders gelagerte Art von Armut zu besprechen -eine Armut, die aus moralischer Defizienz, aus einem selbstverschuldeten Scheitern resultiert. Lasterhaft lebende Kle riker, die man als Stammkunden in den Alehäusern antreffe, junge Erben, die den Fa milienbesitz vergeudeten, Menschen, die über ihre Verhältnisse lebten und gemessen an ihrem Besitz zu aufwendige Kleidung trügen, Grundherren, die sich um den Zu stand ihrer Ländereien nicht kümmerten, arbeitsscheue Nachtgestalten, die tagsüber schliefen, und viele andere mehr. Alle galten sie dem Türhüter als potentielle Spitali ten, als Menschen, die...